Bericht vom Kessel auf dem Rotkreuzplatz
Da ich am 1.2.2002 bis 18.30 Uhr noch einen Kunden zu bedienen hatte, konnte ich erst um 18.45 Uhr zur U-Bahn (Rotkreuzplatz) starten. Am Rotkreuzplatz kam ich nicht vorbei. Überall standen Polizei-Einsatzfahrzeuge und auf der Platzmitte waren Polizisten in der bekannten Kesselformation um etwa 30 bis 40 Jugendliche aufgestellt. Sie hatten ziemlich dicke Nahkampfwesten an, die mit einem Ohrhörer verbunden waren und mit dem die Polizisten wohl ihre Befehle empfingen. Auf Frage hat mir einer der Polizisten gesagt, dass die Westen auch ein Aufzeichnungsgerät enthielten, mit denen alle phonetischen Vorgänge erfasst werden könnten. Vielleicht stimmt's ja aber nicht.
Es war sonderbar ruhig. Keine heftige Stimmlage, keine Randale, braves Warten. Keiner wußte, was jetzt geschieht. Es war im Vergleich zu der Zahl der Eingekesselten unglaublich viel Polizei da, mindestens doppelt so viel. In der Nymphenburger Straße standen zudem noch ca. 15 Polizeieinsatzfahrzeuge in Wartestellung mit kompletter Besatzung (5-6 Mann/Frau). Später kam noch ein Gefangentransporter im großen Busformat (grüne Minna) dazu.
Einzelne Leute wurden dann aus dem Kessel raus gegriffen, fotografiert, ihre Habseligkeiten (Rucksack oder Tasche oder auch mal ein Schal) in einen polizeilichen Plastiksack verpackt mit Siegel, Foto und Aktenzeichen drauf und dann in Zivilfahrzeuge verbracht (Kleinbusse ohne Blaulicht oder Uniformen und mit einem Fahrer in Zivil) und in die Tegernseer Landstraße 122 gefahren. Es waren alles Jugendliche zwischen ca. 14 und 22 Jahre. Sie waren nur auf dem Platz gestanden, sagten sie. Es habe sie auch niemand aufgefordert, zu gehen. Dann sei erst ein Teil der Aktivsten festgenommen worden, und dann, als sie gedacht hatten, es sei jetzt alles schon beendet und während sie sich sich über die vorangegangene Polizeiaktion unterhalten hätten, sei plötzlich und ohne irgendeine Aufforderung von Seiten der Polizei der Kessel um sie rum gezogen worden.
Es gab absurde Szenen. Als z.B. zwei frierende, etwa 14jährige Mädchen von zwei Polizisten gegriffen und zu einer der Steinbänke zum Verhör gebracht wurden, wurden sie gleich von 6 Polizisten "gesichert". Einer davon war der Älteste, der die Fragen zu stellen hatte, ein anderer sollte mitschreiben. Und so sollte auf offenem Platz das Verhör beginnen. Weil ich mich zu den Mädchen stellte, wurde ich aufgefordert, weiter zu gehen. Ich sei hier auf einem öffentlichen Platz, sagte ich. Nein, es handele sich um eine polizeiliche Maßnahme und wenn ich nicht weiterginge, würde ich auch nicht mehr lange da stehen.
Gespenstisch war der Stil. Es war alles irgendwie ganz groß angelegt und sollte perfekt "ablaufen", so sachlich und funktional wie möglich. Zwischen den Kesselpolizisten, die auch nur ein paar Jahre älter waren, und den Eingekesselten wurden zeitweise auch Nettigkeiten ausgetauscht. Viele Polizisten schrieben in ihren Kommandowagen irgendwas in ihre Formulare oder in Labtops. Sache: Teilnahme an einer verbotenen Demonstration. Beweis: Festnahme an verbotenem Ort. Inhaftierung: Zur Ermittlung weitere Beweise.
Irgendwas ist neu an der Einsatzleitung. Vielleicht ist es die Angst vor Genua: Frühzeitiges "präventives polizeiliches Handeln" mit Isolation der vermuteten "gewaltbereiten" Demonstranten? Die Polizisten waren auskunftfreudig wie sonst nie, "bürgernah" in jeder Hinsicht, gut geschult und gut ausgestattet. Ich fragte, ab wann einem Demonstranten Gewaltbereitschaft unterstellt werde. Antwort: Sobald er zu einer verbotenen Demonstration geht. Wann eine Anhäufung von Menschen als eine Demonstration angesehen wird? Wenn die kritische Menge überschritten sei. Welche Menge? Das kommt immer so drauf an, mal 50, mal 7. Je nach dem eben. Nach was? Nach nix.
Wolfram Pfreundschuh