Münchner
Friedensbündnis
Münchner Friedensbündnis - c/o
Friedensbüro e.V.,
Isabellastr. 6, 80798 München
Jamal Zbeidi am roten
Handy. Neueste
Nachrichten über den Stand der Belagerung.
Und beim Essen, noch ein Sprengsatz – Ein Tag im
Leben ..
von Gideon Levy, Miki
Kratzman (Foto), Ha'aretz 16.5.07
Drei Stunden Alltags-Hölle im Flüchtlingslager Jenin.
Aufzeichnungen aus dem Haus in der unteren Gasse.
Eben haben wir uns auf die Plastikstühle im Wohnzimmer gesetzt, da
fängt es an laut zu werden. Ein Bumm nach dem anderen,
Gewehrsalven. Sie kommen näher, einzeln und geballt, zwischendurch
kleine Pausen. Jamal gießt Kaffee ein, wie immer. Noch eine
Tasse, noch eine Zigarette. Das Schießen lässt nicht nach.
Wie geht's? Was gibt's neues? Zweifellos wird ganz in der Nähe
geschossen, gleich neben der Hauswand. Am Check Point Jalamé,
auf dem Weg hierher, haben wir gar nicht acht gegeben: Eine Reihe von
Panzerfahrzeugen der Armee, die seitlich parkten und wahrscheinlich auf
ihren Einsatz warteten.
Flugzeuge der Luftwaffe am Himmel, Sie lassen die dünnen
Wände mitsamt den Fenstern zittern. Auf der Straße geht das
Leben weiter: Mittag, die Kinder mit den Schultaschen auf dem
Rücken kommen aus der Schule zurück. Ihre Mütter stehen
auf der Straße und unterhalten sich, der fliegende
Gemüsehändler preist seine Ware an, und die Geschosse
rücken näher. Als wäre nichts. Jetzt ist sogar dem
kampferprobten und Leid gewohnten Jamal Zbeidi klar, dass im Lager
etwas passiert.
Gestern spät am Abend waren Soldaten der israelischen Armee ins
Lager eingedrungen und hatten einen bewaffneten Jugendlichen am Bein
verletzt. Dem jungen Mann gelang es, zu entkommen, und er schaffte es
bis ins nächste Haus. Die Nachbarn verbanden sein Bein und
versuchten, ihn zu überreden, bis zum Morgengrauen zu warten, aber
seine Schmerzen wurden stärker, und er flehte sie an, ihn ins
Krankenhaus zu bringen. Jamal bestellte den Krankenwagen. Als der vor
der Haustür angekommen war, landete plötzlich ein
Militärjeep daneben, der nachts an der Straßenecke gelauert
hatte. Die Insassen, Soldaten, die es nicht wagten, den mit
Panzerplatten verkleideten Jeep zu verlassen, wiesen die Sanitäter
an, den Verletzten auszuliefern. Sie setzten ihn in den Jeep, befahlen
dem Krankenwagen, vor ihnen her zu fahren, und fuhren ab.
Kurz zuvor war ein anderer junger Mann notfallmäßig ins
Krankenhaus in Nablus transportiert worden. Er war am Kopf verletzt
worden, bei einer Rauferei im örtlichen Internet-Café, die
sich dann zu einem Familienstreit entwickelte. Inzwischen hatte das
Lager-Komitee versucht, die beiden Familien Shalabi und Ararwi zu
beruhigen, seit Stunden. Die Leute im Lager hatten nicht geschlafen.
Noch eine schlaflose Nacht. Nichts außergewöhnliches.
Das rote Telefon zirpt. Jamal ist Mitglied des Lager-Komitees; die
Leute rufen bei ihm an, um die neusten Nachrichten zu erfahren. Auch er
telefoniert mit Nachbarn und Informanten. Erste Information:
Gerüchte über 'Mista'arvim' [als 'Araber' verkleidete Agenten
der israelischen Armee], die sich in einem der Häuser oben in der
Gasse, in der wir uns befinden, verbarrikadieren. Bewaffnete aus dem
Lager haben das Haus unter Beschuss genommen.
Ein Angestellter der Stadt Jenin ist nicht zur Arbeit erschienen. Der
Verdacht liegt nahe, dass er von den 'Mista'arvim' festgehalten wird,
die bei Nacht und Nebel in sein Haus eingedrungen waren, um sich dort
zu verstecken. Jetzt ist es kurz nach 12 Uhr mittags. Jamal meint, wenn
sich 'Mista'arvim' im Haus aufhalten, wird die Armee Leute schicken, um
sie dort heraus zu holen.
Von der Straße her hört man eilige Schritte. Wir kleben am
vergitterten Fenster. Drei Bewaffnete rennen die Gasse hinauf, in
Richtung Schusswechsel. Jamal sagt, vielleicht ist es ein Fehlalarm. Im
Fernseher, der ununterbrochen läuft, ohne Ton, erscheint bei 'Al
Jazeera' Verteidigungsminister Amir Peretz. Der Muezzin im Lager ruft
zum Mittagsgebet, als wäre nichts geschehen. Wenn es Tote gibt,
werden die jungen Männer zur Moschée laufen und über
Lautsprecher verkünden, wer erschossen wurde. Mehr Schüsse.
Meine Hände überziehen sich ganz langsam mit kaltem
Schweiß. Wer von außerhalb hier her kommt, bekommt es mit
der Angst zu tun. Viel Angst. Der Ventilator an der Decke dreht sich
lautlos. Er lindert die Hitze, aber nicht die Angst. Jamal bleibt cool.
Er telefoniert mit einem der Bewohner der Häuser oben in der
Gasse, um Genaueres zu erfahren. Wenn er jetzt keine Gäste aus
Israel hätte, wäre er schon unterwegs. Die Schüsse
kommen näher. Hani Damaj, wohnhaft im Auge des Sturms, berichtet
am roten Telefon: Es heißt, Soldaten haben sich im Nachbarhaus
verbarrikadiert, das die jungen Männer beschießen, wo der
Vorarbeiter Abu Eimad Gharib wohnt. Jamal bittet Damaj, genaueres in
Erfahrung zu bringen. Er erinnert uns daran, dass wir in dem belagerten
Haus schon zu Besuch waren, damals, als Ariel Scharon ins Krankenhaus
kam.
Noch ein Gespräch: Die Nachricht, ein Magnum-Lieferwagen mit
'Mista'arvim' fahre im Lager umher. Nicht empfehlenswert, im Moment mit
einem Lieferwagen im Lager umher zu fahren. Gharib, ein Mann von etwa
50 Jahren, wohnt im belagerten Haus mit seiner Frau. Sie haben keine
Kinder. Eine Gruppe von Kindern rennt gerade die Gasse hinauf, in
Richtung Schusswechsel. Sie tragen die Schulranzen noch auf dem
Rücken. Eine Gruppe Mädchen in ihren gestreiften
Schulkleidern steigt ebenfalls hinauf, aber langsamer. Es ist sehr
heiß draußen.
Noch ein Gespräch: Damaj bestätigt: Die Soldaten haben sich
im Haus verschanzt. Jamal erlaubt uns nicht, hinaus zu gehen. Das ist
nicht der richtige Moment für einen Israeli, im Lager spazieren zu
gehen. Die Kinder sind nicht zu Hause. Anton ist noch bei der Arbeit in
der Autoreparaturwerkstätte, Najim arbeitet als Wächter,
Youssef und Hamudi, die beiden Jüngsten, sind auf dem Heimweg von
der Schule neben dem neuen Friedhof für die Gefallenen der zweiten
Intifada. Ihr Vater geht davon aus, dass sie mit den anderen Kindern
dorthin gerannt sind, wo gefeuert wird, um Steine auf die Jeeps zu
werfen. Vor einigen Monaten wurde Youssef von einer Kugel am Bein
getroffen. Jamal bleibt gelassen. Er hat wirklich schon alles gesehen.
Mit eigenen Händen hat er Dutzende von Leichen aus den belagerten
Vierteln geborgen, damals nach der "Operation Schutzschild", er verlor
seinen Schwager und zwei Neffen, sieben Mal war er ohne
Gerichtsverfahren im Gefängnis ["administrative Haft"].
Das Telefon: Khaled Abu Al Haija, ein Bauarbeiter, der neben dem
belagerten Haus arbeitet. Er berichtet, es gäbe zwischen dem Lager
und der Stadt Jenin noch Autoverkehr, aber man höre jede Menge
Gewehrsalven und Explosionen. Verkehrsbericht aus Jenin. Ein paar
hundert Meter von hier wurde vor einigen Tagen die junge Bushra Al
Wahsh in ihrem Zimmer erschossen, als sie sich gerade auf eine
Prüfung vorbereitete. Gerade jetzt erinnere ich mich an sie.
Ein kräftiger Knall. Es war eine der roadside bombs, die die
jungen Männer für die Jeeps ausgelegt haben. In letzter Zeit
empfangen sie die israelische Armee auch mit Gasballons am
Straßenrand, die in die erst vor wenigen Jahren reparierten
Straßen tiefe Löcher reißen. ".. welch himmlische
Ruhe, wenn ich nichts brauch' und auch nichts tue..." kommt mir ein
alter Schlager in den Sinn, da gibt's noch einen Knall, näher als
vorher. ".. und überm Lager scheint der Mond, mit all den Sternen
– wie gewohnt ..." geht's weiter. Ich stelle mir vor, wie
beängstigend es nachts hier im Flüchtlingslager sein muss,
wenn die Armee kommt.
Wir zappen den Fernseher auf den lokalen Sender "Farah", vielleicht
wissen die was neues. Kurznachrichten der Station "Ma'an" laufen als
Textband unten auf dem Bildschirm. "Die israelischen
Sicherheitskräfte haben die Zuwege nach Jenin blockiert." Gleich
danach: "Die israelischen Sicherheitskräfte sind ins
Flüchtlingslager Jenin eingedrungen."
In 'Al Jazeera' wird über die Wahlen in Frankreich berichtet. Das
Schießen hört nicht auf. Ein Schul-Minibus setzt
draußen Kinder ab. Die meisten von ihnen rennen sofort nach oben,
wo gefeuert wird. Der einzige Ort im Lager, wo 'action' geboten wird.
Ali Samoudi, 'Al Jazeera'-Korrespondent in Jenin, wird angerufen. Er
ist schon vor Ort. Atemlos erzählt er, es stünden schon 20
Armeejeeps neben dem Haus, und eine ganze Reihe davon parkten noch
weiter unten, neben der Pferdeskulptur, die irgendwann ein deutscher
Künstler aus kaputten Krankenwagen konstruiert hat, an der Grenze
zum Lager, vor dem Eingang zum staatlichen Krankenhaus. Dort wird jetzt
gestreikt, weil die Mitarbeiter seit Monaten kein Gehalt bekommen. Noch
eine Explosion. Samoudi sagt, es gibt schon Verletzte. "Ich hoffe, ihr
kommt sicher hier raus, und wir haben keine Toten", bemerkt Jamal,
unser Gastgeber, trocken. Die Flugzeuge der israelischen Armee bieten
noch einen Überschall-Knall. "Das hat nichts damit zu tun",
beruhigt uns Jamal. "Wenn etwas schiefgeht, kommen Apaches
[Helikopter]. Mit Apaches ist nicht zu scherzen."
Ein Nachbarjunge kommt ins Haus gerannt, verschwitzt, mit
gerötetem Gesicht, eine Zitrone in der Hand. Er kommt von dort. Es
gibt schon zwei Verletzte, einer davon schwer. Die Sirene eines
vorüberrasenden Krankenwagens übertönt seine Worte. Der
kleine Usseid sagt, er habe keine Angst. "Vor denen soll ich Angst
haben?", meint der zierliche Junge. Ja, er hat sie mit Steinen
beworfen. Drei unbewaffnete Jugendliche fahren in einem uralten Traktor
den Hügel hinauf. Ein Taxi wendet, als es merkt, woher die
Schüsse kommen. Als das Feuer intensiver wird, sagt Jamal, das ist
wahrscheinlich das Ende: Bevor die Soldaten gehen, drehen sie nochmal
auf. Das ist die gefährlichste Phase. Es ist ein Uhr zwanzig.
Sana'a Zbeidi serviert das Mittagessen: Ein Tablett gebratenes
Hackfleisch mit Erdnüssen auf Reis, Schüsseln mit Yoghurt,
nochmal Fleisch. "Zwei Verletzte, einer schwer", sagt sie, während
sie den Tisch aufdeckt. Direkter Report aus der Nachrichtenstation
Küche im zweiten Stock.
Der deutsche Außenminister trifft sich in 'Al Jazeera' mit Abu
Mazen [Mahmoud Abbas]. Draußen ächzt ein Lieferwagen,
hält an, ein Kind steigt aus. Ali Samoudi meldet die Ankunft eines
Bulldozers der Armee. Ein Nachbar läuft schreiend auf die
Straße: Er hat seinen Sohn zur Arbeit geschickt und jetzt ist er
nicht da; bestimmt ist er 'dort hin' gelaufen. Dieser Nachbar hat vor
einigen Jahren innerhalb weniger Tage zwei Neffen verloren. Jetzt
weiß er vor Sorge um seinen Sohn nicht ein noch aus. Er
läuft auf der Gasse hin und her, murmelnd und fluchend. "Wenn du
meinen Sohn siehst", brüllt er dann in sein Handy, "sag ihm, Papa
sucht ihn!" Wieder Gewehrsalven und das Heulen eines Krakenwagens oben
in der Gasse. Der Nachbar beschließt, ins Krankenhaus zu fahren,
um nachzusehen, ob sein Sohn, Gott behüte, dort gelandet ist. Auch
er hat von den Verletzten gehört.
Hamudi ist nach Hause gekommen. Mit kindlicher Stimme und einem
gewinnenden Lächeln berichtet der Elfjährige direkt vom Ort
des Geschehens: Es werden Steine auf die Jeeps geworfen, man
erzählt, die Soldaten hätten versucht, jemanden kalt zu
machen, der einen Soldaten angeschossen hat. Ein Gerücht. "Hast Du
Steine geworfen?" fragt der Vater. "Nein, nur zugeschaut." Und
beide, Vater wie Sohn, wissen die Wahrheit. Nachts springt Hamudi zu
den Eltern ins Bett, wenn im Lager geschossen wird. Aber tags ist er
mutig wie seine großen Brüder.
Das Telefon kommt nicht mehr zur Ruhe. Gerade ist ein Mitarbeiter von
"Betzelem" [Menschenrechtsorganisation aus Israel und Palästina]
dran, Atef Abu Al Rub, der wissen möchte was los ist. Sollen wir
jetzt essen? Ein Uhr fünfzig. Besorgte Frage: Wer ist jetzt an der
Tür? Der fünfzehnjährige Youssef ist noch nicht
zurück. Sana'as Essen ist wie immer köstlich. Beim zweiten
Bissen noch ein Sprengsatz, ganz nah. Ein Traktor, der sich wie ein
Panzer anhört, jagt uns ans vergitterte Fenster mit den
Plastik-Jalousien. Ein Jeep mit behelmten Journalisten in
schusssicheren Westen rast die Gasse hinauf. Noch ein Krankenwagen in
der selben Richtung, diesmal ohne Sirene. Youssef kommt nach Hause.
"Ich hab' nur zugeschaut", sagt er. Vier Kinder sind von
Gummigeschossen leicht verletzt worden, meldet er. "Hast du den
Schulranzen dabei?", fragt der Vater. Ja, er hat ihn auf dem Hinweg an
der Seite abgelegt, auf dem Rückweg wieder mitgenommen. Es ist
nach drei Uhr jetzt, und ruhig.
Der Sprecher der israelischen Armee lässt verlauten, "Im Rahmen
einer Operation der Armee in Judäa und Samaria zum Schutz der
Sicherheit der Bürger des Staates Israel und zur Zerstörung
der Terror-Infrastruktur, führt die Armee Aktionen in der Gegend
von Jenin durch, um die Infrastruktur des Terrors zu eliminieren und
Angriffe auf die Heimatfront zu verhindern. Am fraglichen Tag wurden
gegen die Armee Sprengsätze abgefeuert und die
Sicherheitskräfte wurden bei ihrem Einsatz in Jenin in mehreren
Fällen unter Beschuss genommen. Es gab keine Verletzten. Die
Truppen schossen zurück."
Die Straße ist mit Steinen übersät. Leise rieselt
Wasser darüber; eine der Wasserleitungen ist geborsten. Ein
zerschlagenes Fenster, eine zerbrochene Wand, Löcher in der
Straße, von den Sprengsätzen. Die Wände sind verkohlt
und durchsiebt von Geschossen. Hier fand ein kleiner, alltäglicher
Krieg statt. Eine Gruppe bewaffneter junger Männer steht auf der
Straße, neben dem Haus, das belagert war. Um sechs Uhr nach dem
Krieg. Sie kichern und lächeln, winken mit dem Gewehr. Die Freude
über einen kleinen Sieg, die Freude der Armen.
(dt.Weichenhan-Mer G.)