Redebeitrag von Sophia Deeg (Friedensaktion Palästina)
(Der Beitrag ist auch bei der Friedensaktion Palästina selbst zu finden: "Bereit zum totalen Krieg?" und bei der
Friedenskooperative).
Annähernd total war jener Krieg auch in seiner Durchdringung der Köpfe und Herzen der Krieg führenden Deutschen. Die Gesellschaft wurde kriegsvorbereitend und kriegsbegleitend bis in den letzten Winkel überzogen mit einer Propaganda, die uns heute absurd und plump erscheint. Und doch erleben wir heute wieder, wenn auch in einem anderen Stil, in einer anderen Sprache, mit anderen Bildern eine Gleichschaltung und Hetze, die nichts anderes bezweckt als weltweit die Menschen glauben zu machen, dass sie sich vor dem "anderen" schützen müssen. Wozu man sie zuvor glauben macht, dass der andere grundsätzlich anders und selbstverständlich gefährlich ist. Dann, dass es angesichts der unberechenbaren, allgegenwärtigen Bedrohung, genannt "internationaler Terrorismus", das Beste ist, als erster anzugreifen oder im Besitz des einschüchterndsten Waffenarsenals zu sein oder wenigstens im Lager des Mächtigsten und Aggressivsten Unterschlupf zu finden.
Im übrigen gilt es, sich möglichst wirksam abzuschotten, hohe Mauern zu errichten, sei es wie in Palästina aus Beton und Nato-Draht oder wie um die Festung Europa aus Verordnungen, biometrischen Ausweisen, Nachtsichtgeräten und - schaurige Koinzidenz - Auffanglagern und Menschenjägern nebst Deutschen Schäferhunden.
Die Ideologien, die unsere Mitmenschen zu bedrohlichen Fremden machen, verwandeln sich gespenstisch rasch und beinahe unmerklich in Gewehrläufe, in Grenzbefestigungsanlagen, in Bombengeschwader.
Der GI im Irak, ein sozial Deklassierter aus den Armenvierteln der reichen USA, weiß fast nichts, hat keine Gelegenheit viel mehr zu wissen, als dass die Gestalten, die schemenhaft im Visir seines Panzers auftauchen, für ihn zum Abschuss freigegeben sind. Sie stehen in der Weltordnung, die er im Kopf hat, noch unter ihm, und er weiß aus der gesamten Erfahrung seines Lebens, dass er selber verdammt weit unten steht. Er ist weißer oder brauner oder schwarzer Müll in seiner Gesellschaft, die anderen aber sind noch weniger: "Ali Babas" nennt er sie...Araber...Muslime...Iraker - Leute ohne Mikrowelle, ohne Demokratie, ohne Disneyland, ohne vorehelichen Sex, dafür mit einem Hass auf all das und im übrigen sau-gefährlich, jeder ein potentieller Terrorist.
Diese Stimmung unter den niedrigen Chargen der Besatzer im Irak führt uns der neue Michael Moore Film vor Augen. Und wir, Europäer, sind schockiert und auch ein bisschen geschmeichelt angesichts von so viel offensichtlicher Primitivität "der Amerikaner", die uns unsere Überlegenheit zu bestätigen scheint.
Doch die Einstimmung auf den totalen Krieg gegen den Terrorismus, die Propaganda und die Sprachregelungen kommen subtiler vielleicht als zu NS-Zeiten daher und sie brauchen nicht durch ein Propagandaministerium eigens dekretiert zu werden, aber sie sind in den deutschen Medien, im Diskurs der Politiker und am übelsten seitens namhafter Intellektueller, falls sie sich denn überhaupt politisch äußern, allgegenwärtig und zwar ganz und gar freiwillig, in vorauseilendem Gehorsam, im Bestreben, sich der Macht anzubiedern. Da sieht ein gänzlich ignoranter Soziologe Beck, der immer wieder gerne in der SZ zu Wort kommt, im Aufbegehren jugendlicher palästinensischer Steinewerfer nichts als Terrorismus und in der Solidarität europäischer Muslime mit dem palästinensischen Widerstand gegen die Besatzung eine Internationale des antisemitischen Terrorismus. Was dieser deutsche Soziologe sich da zusammenschwadroniert hat nichts mit irgendeiner gesellschaftlichen Realität zu tun, es ist schlicht und ungebrochen übernommene israelische Propaganda. Propaganda ist es auch, wenn sogenannte Nahostexperten aus allen möglichen Stiftungen, Instituten und dem Außenministerium von den "beiden Seiten" im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern reden, als wären Besatzer und Besetzte irgendwie vergleichbar; wenn dann von "beiden Seiten" "Mäßigung" oder "Kompromissbereitschaft" gefordert wird und man die Expertenstirn sorgenvoll in Falten legt, weil angeblich alles so kompliziert ist. So biedert sich dieser Tage auch wieder unser faltenreicher Außenminister Fischer in Nahost als Vermittler im ach so komplizierten Konflikt an.
Was ist kompliziert daran, Besatzer und Besetzte zu unterscheiden? Was ist kompliziert daran zu sehen, welche Seite die wesentliche Verantwortung hat, und zwar für alles, was in Israel/Palästina geschieht, einschließlich der schauderhaften Selbstmordattentate, da nur eine Seite die Macht hat? Was ist so kompliziert daran, das überwältigende Unrecht einer 37-jährigen Besatzung zu erkennen und zu benennen (wie es zahllose UN-Resolutionen längst tun) und die Konsequenzen, die zu ziehen sind, tatsächlich zu ziehen. Dafür brauchts keine Roadmaps, keine Genfer Initiativen und keine einseitigen Teilabzugspläne - im Interesse der Sicherheit und Prosperität aller Menschen, die in Israel/Palästina zu Hause sind, und auch im Interesse sozialer und demokratischer Errungenschaften der israelischen Gesellschaft muss endlich die völkerrechtswidrige, barbarische Besetzung weg!
Ein Volk, das ein anderes unterdrückt, geht daran menschlich und gesellschaftlich auch zu Grunde. Das haben viele Israelis, besonders junge, längst erkannt. Zusammen mit Palästinensern sagen sie, wir weigern uns Feinde zu sein, wir wollen gleichberechtigt zusammenleben. Zusammen mit Palästinensern leisten sie Widerstand gegen die Besatzung.
Diese Israelis und immer mehr Juden in Europa und anderswo fühlen sich durch die Politik und die Propaganda der israelischen Regierung vereinnahmt und missachtet und bekunden immer deutlicher ihr "not in my name". Nicht in meinem Namen geschieht die israelische Politik, die Menschen degardiert, ghettoisiert, verachtet. Diese Israelis und Juden wehren sich nicht nur um ihrer selbst willen. Sie berufen sich auf, von ihren Eltern und Großeltern weitergegebenen historischen Erfahrungen. Und ihre Lehre aus dem Holocaust und dem Weg dorthin ist sehr klar und gilt für uns alle: Nie wieder darf der Wert des Menschen in Frage gestellt werden!
Warum zaudert die deutsche Politik, warum zaudern die deutschen Medien und die deutschen Intellektuellen so sehr, in diesem Sinne solidarisch mit Israelis und Palästinensern zu sein? - Die Antwort ist nicht schwierig: Es geht der Politik und den Mainstremmedien nicht um die Interessen von Menschen, es geht um Macht und die Anbiederung an die Macht, es geht darum, den bedrohlichen "Anderen" zu definieren, um ihn ausschließen, ideologisch bekämpfen und möglicherweise auch bekriegen zu können, falls er sich nicht unterwirft. Es geht darum, bei der Polarisierung, die wir in allen Gesellschaften weltweit und auf allen möglichen Ebenen erleben, im Lager des Stärkeren Unterschlupf zu finden.
In den Nachrichten hört man in letzter Zeit fünf mal in 3 Minuten "der radikale Schiiten-Prediger Alsadr". Weiß irgendeiner dieser Journalisten tatsächlich irgendwas über diesen Mann, außer dass er ein schiitischer Geistlicher ist - warum nennt man ihn nicht so - und dass er gegen die Besatzung ist? Kann man einem Iraker, der ein halbwegs intaktes Selbstbewußtsein und Mitgefühl mit seinen Landsleuten hat, zumuten, für die Besatzung oder neutral zu sein? Was ist radikal daran, gegen eine Besatzungsmacht und ihre Kollaborateure Widerstand zu leisten, die die Iraker und ihre Kultur mit Verachtung überzieht, Menschen willkürlich verhaftet und foltert, die gesamte Zivilbevölkerung täglich und stündlich terrorisiert, die Bewohner von Nadschaf und anderen Städten bombardiert, weil diese sich nicht von ihren Widerstandskämpfern distanzieren? Warum werden die Widerstandskämpfer dämonisiert, die in der Imam-Ali-Moschee Zuflucht fanden, wo sie aus Achtung vor dem Gotteshaus keine Waffen trugen oder dort lagerten - anders als in den meisten Medienberichten behauptet?
Hätten wir keine Pressefreiheit, sondern gesteuerte Medien mit Journalisten, die auf Weisung berichten würden wie in der NS-Zeit, gäbe es keinen Anlass sich über die tendenziöse, verhetzende Berichterstatung zu wundern und auch kaum eine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. So aber müssen wir uns fragen, was wir dieser Zurichtung zu Krieg, Kulturkampf und Rassimus entgegensetzen können, der uns unsere "freien" Medien aussetzen.
Worum geht es uns heute, am Jahrestag des Überfalls Hitler-Deutschlands auf seine Nachbarn? Worum geht es uns heute, da wieder und nicht erst neuerdings Gesellschaften bereit gemacht werden und sich bereit machen, den "bedrohlichen" Anderen, dessen Wert durchaus in Frage steht, als solchen zu definieren - und das auf plumpe, offen rassistische Art aber auch mit scheinbar hehren Argumenten? Worum geht es uns heute, wenn wir durch Sprachregelungen und Argumentationsschemeta für die Abschottung vom vermeindlich Anderen und für den Krieg gegen ihn bereit gemacht werden?
Was können wir dieser herrschenden Tendenz entgegensetzen?
Falls es uns ernst ist mit unserer Verweigerung auch gegenüber den subtiler vorgehenden Kriegstreibern, müssen wir uns Einblick verschaffen in die Realität von Krieg und Besatzung in Tschetschenien, im Irak, in Palästina. Ich schlage vor, wir kündigen unser SZ-, Spiegel- Zeit- oder Taz-Abo. Vergeuden wir unsere Zeit nicht mit Publikationen, in denen es nur "Entdeckern" (!) gelingt, etwas Relevantes und halbwegs Zutreffendes zu finden. Informieren wir uns aus alternativen Quellen im Internet, lesen wir Zeitungen/Zeitschriften wie die jungeWelt, die Publikationen des ISW, deren Macher hinschauen und sich für die Leute vor Ort, an der Basis interessieren. Konsumieren wir die Mainstream-Medien allenfalls noch als symptomatisch, lesen wir darin zwischen den Zeilen, was die Mächtigen vorhaben.
Schauen wir direkt nach Palästina, nach Irak. Wir sind es den Menschen dort, die Widerstand leisten, schuldig. Erinnern wir uns: Wie sehr waren diejenigen, die damals, vor 60 und mehr Jahren Widerstand leisteten gegen Krieg und Völkermord darauf angewiesen, dass sie "draußen" wahrgenommen und unterstützt wurden.
Ich möchte zum Schluss einen Israeli zitieren, der in Haifa kürzlich wieder in dem Restaurant saß, wo er vor ca. 1 1/2 Jahren eines der blutigsten Selbstmordattentate selber miterleben musste. Er, der die furchtbaren Bilder nicht vergessen kann, sagte: "Kein Meter Land ist es wert, dass irgend Jemandem, egal ob Palästinenser oder Israeli, ein Arm oder ein Bein abgerissen wird."