Martin Pilgram beim Ostermarsch 2024 am Marienplatz München
Martin Pilgram

Martin Pilgram, Vorsitzender pax christi im Erzbistum München und Freising

Ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid.

Letzte Woche erreichte mich ein Anruf vom BR, von dem ich gefragt wurde: Werdet ihr nicht immer weniger, seid ihr nicht immer die gleichen? Weniger scheinen wir zumindest hier nicht zu werden, mehr Demos gibt es allein schon in München zum Ostermarsch, ja wir würden uns auch über Menschen freuen, die neu zu uns stoßen würden. 

Dringend nötig ist es, dass wir mehr werden, bei all den Krisen und Kriegen um uns herum. Da wird nicht nur Krieg in der Ukraine oder vielleicht noch der in Gaza geführt. Es gibt auch die Kriege in Äthiopien, dem Sudan, im Kongo, um nur einige zu nennen.

Für das Jahr 2022 zählt das UCDP (Uppsala Conflict Data Program) 55 verschiedene Konflikte mit staatlicher Beteiligung, von denen acht die Intensitätsstufe eines Krieges erreicht haben. In manchen Staaten herrschen zudem zeitgleich mehrere Konflikte. Rechnet man nicht-staatliche Konflikte etwa zwischen Rebellengruppen oder rivalisierenden Drogenkartellen in Mexiko hinzu, sind es insgesamt 82 Konflikte.

Nicht nur die Zahl der Konflikte nimmt zu, sondern auch deren Dauer. Der jüngste Trend zur Internationalisierung von Konflikten, also, dass sich vermehrt Länder in die Konflikte anderer Länder einmischen, führt dazu, dass Konflikte länger und blutiger werden und auch schwieriger beizulegen sind.1

Und wer eine wirksame Waffe besitzt, denkt im Konflikt von Anfang an schon an den Einsatz dieser Waffe, auch wenn er sie nicht sofort zieht.

Für viele Menschen ist Gewaltfreiheit eine Utopie, ein unerreichbarer Traum! Nach Meinung vieler anderer ist Gewaltlosigkeit unmöglich! Unmöglich, weil sie glauben, dass Gewalt dem Menschen angeboren ist.

Die meisten Medien interessieren sich eher für Gewalt, Krieg, Angst und Terror als für Gewaltfreiheit. So ist es für Bürgerinnen und Bürger schwierig, Informationen über gewaltfreie Alternativen zu erhalten.

Wie kann eine Person glauben, dass Gewaltlosigkeit möglich ist, wenn sie tagtäglich immer gewalttätigeren und grausameren Kulturprodukten, Filmen und Videos ausgesetzt ist?

Warum sollte sich eine Person an gewaltfreien Aktionen beteiligen in einem System, das selbst Armut, Kriege und Klimakrisen erzeugt, also gewalttätig ist?

Kann eine Person gewaltfreie Bewegungen unterstützen, wenn sie über die Medien praktisch nichts darüber erfährt?

Wie kann sich eine Person dafür entscheiden, Gewaltfreiheit zu unterstützen, wenn Menschen, die in unserer Gesellschaft als „Vorbilder“ gelten, den Ausschluss und die Diskriminierung verschiedener (kultureller, ethnischer oder religiöser) Gruppen, Völkermorde, Verteidigungskriege und Präventivkriege rechtfertigen oder verschweigen?

Die Lösungen, die die Machthabenden heute anbieten, können der Gewalt kein Ende setzen. Diese Welt steht kurz vor einer Explosion. Es gibt keinen Weg, Gewalt mit Gewalt zu beenden! Deshalb müssen wir endlich umsteuern.

Auch unsere Bundesregierung gibt heute das meiste Geld für militärische Antworten auf Krisen aus. Die 100 Milliarden aus dem Frühjahr 2022 sind praktisch schon nach zwei Jahren ausgegeben. Man verweist wieder auf die 3,5% des BIPs, die in den 70ger Jahren für das Militär bereitgestellt wurden. In anderen Feldern, die für Konfliktlösungen in Frage kommen, wird gespart, so im diplomatischen Dienst, bei Goethe-Instituten, in der Katastrophenhilfe, der Entwicklungshilfe und natürlich auch im Bereich eines Aufbaus resilienter Strukturen.

Dabei gibt es doch ausreichend Studien darüber, dass gewaltfreier Widerstand nahezu doppelt so oft zu einem Erfolg geführt wie bewaffneter. Entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass Gewalt als notwendiges Übel das letzte Mittel – also die ultima ratio – sei, um einen Konflikt für sich zu entscheiden, zeigt die Studie der US-amerikanischen Wissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria Stephan "Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict" von 2011 genau das Gegenteil.

Jetzt könnte erwidert werden, ja die Studie betrachtet ja nur Konflikte bis 2006 und danach habe ja der Erfolg insgesamt abgenommen. Stimmt. Allerdings stellt Erica Chenoweth in der neueren Studie "The Future of Nonviolent Resistance" von 2020 fest, dass der Erfolg von gewaltvollen Aufständen allerdings noch stärker zurück ging, sodass seit 2010 gewaltfreie Aufstände 4-mal häufiger erfolgreich waren als gewaltvolle.

In einer Broschüre mit der Überschrift „Gewaltfrei wirkt“2 hat pax christi mal 60 Erfolgsgeschichten gewaltfreier Aktionen zusammengetragen. So etwa der Eingriff der Shanti Sena-Friedensbrigaden 1969 in Ahmedabad, Indien. Sie stellten sich zwischen aufständische Muslime und Hindus und erreichten Frieden nach vier Monaten geduldiger Versöhnungsarbeit.

Aber gewaltfreier Widerstand oder Pazifismus wird unabhängig davon schnell mit einer passiven Haltung verbunden, die dem Bösen nicht entschieden entgegentritt. Sprechen wir doch besser vom Vorrang der Gewaltfreiheit. Wir sind nicht gewaltlos, wenn wir uns in einer gewalttätigen Welt bewegen. Wir versuchen, weniger gewalttätig zu werden, durch Lebensstil und Aktion, politisch, wirtschaftlich und persönlich, aber wir sind nicht am Ziel. Gewaltfrei zu handeln verlangt Aktivität: sich von der Gewalt, die auch in und um uns ist, befreien zu wollen, nach Liebe, Wohlwollen, Offenheit, Transparenz, Wahrhaftigkeit zu streben. Wir müssen lernen umsichtig, sensibel und anerkennend miteinander umzugehen. In die richtige Richtung zu gehen – darauf kommt es an.

Gewaltfreiheit darf auch nicht mit einem moralischen Relativismus identifiziert werden. Als gewaltfrei Handelnde müssen wir immer zwischen Angreifer und Verteidiger unterscheiden. Diese Einsicht trifft heute sowohl auf Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine als auch auf den brutalen Terroranschlag der Hamas gegen Israel zu. Beide Angriffskriege sind klar zu verurteilen und sowohl die Ukraine als auch Israel haben ein legitimes Recht zur Selbstverteidigung. Aus der Sicht der Gewaltfreiheit müssen aber sowohl die Mittel als auch die Art und Weise der Verteidigung so gewählt werden, dass eine Eskalation der Gewalt möglichst vermieden wird. Schon Gandhi warnte ausdrücklich vor der Gefahr, sich über die Zeit dem Angreifer so anzugleichen, dass der moralische Unterschied dabei verloren geht. Gewaltfreiheit heißt Eintreten gegen Unrecht, Unterdrückung, Gewaltherrschaft. Der Vorrang der Gewaltfreiheit bedeutet, immer dann gewaltfreie Mittel zu wählen, wenn die Möglichkeit dazu gegeben ist. Das ist kein Freibrief für Gewalt. Denn es gibt – mehr als wir ahnen – gewaltfreie Wege, Möglichkeiten, das Recht, die Freiheit und Demokratie zu verteidigen, auch unter Einsatz des eigenen Lebens. 

Auch in der Ukraine kam es auch nach dem 24. Februar 2022 zu gewaltfreien Aktionen. Felip Daza Sierra hat 235 gewaltfreie Aktionen in der Ukraine zwischen Februar und Juni 2022 analysiert3 und dabei die Auswirkungen und Herausforderungen in sieben Aktionsbereichen aufgelistet.

In der Ukraine waren alle diese Aktionen eher spontane Aktionen. Aber auch gewaltfreier Widerstand muss eingeübt werden. Das ist sicher einfacher wie gewaltsamer, trotzdem ist es nötig. Wie, das haben wir auch hier schon vielfach erlebt in den Aktionen gegen die Atomkraft, im Widerstand gegen die Nachrüstung, im Klimaprotest. Immer wieder gab es vor den Protesten Camps, in denen die Aktivisten trainierten. Aber unabhängig vom speziellen Protest müssen wir lernen, aktive Gewaltfreiheit zu lernen und zu leben.

Und wir müssen uns dabei darüber im Klaren sein, was wir schützen wollen. Menschen, Institutionen und unsere kulturellen Errungenschaften müssen Vorrang vor Territorien erhalten.

Wir müssen Zusammenhalt schaffen und Resilienz bilden. Wir haben es gesehen in unseren Demonstrationen gegen Rechts. Ein gemeinsames Ziel bringt unterschiedlichste Gruppen zusammen.

Wir müssen Angriffsziele minimieren. Wenn wir unsere Infrastruktur dezentral organisieren bildet sie ein schwierigeres Angriffsziel als eine zentralisierte. Der Ausfall einzelner Komponenten kann durch andere kompensiert werden.

Wir brauchen starke zivilgesellschaftliche Institutionen: Nachbarschaften, Freundschaften, Vereine, Kirchen, Parteien und andere Intressensgruppen können genutzt werden gemeinsam Widerstand zu organisieren und wirken gegen Vereinzelung und Vereinnahmung.

Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Kräfte, die weiterhin aus Krisen und Kriegen ihre Profite ziehen nicht daran interessiert sind, uns in unserem Bemühen hin zu einer gewaltfreien Welt zu unterstützen. 

Gewaltfreiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Für sie einzutreten, sie zu verwirklichen und zu konkretisieren, ist eine immerwährende Aufgabe. Nehmen wir diese Aufgabe für uns von diesem Ostermarsch mit.

Danke.