Claus Schreer, Rede auf der Kundgebung auf dem Münchner Münchner Marienplatz am 6. August 2020
Liebe Münchnerinnen und Münchner,
liebe Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner,
Seit mehr als 50 Jahren kämpft die Friedensbewegung auf der ganzen Welt gegen das atomare Wettrüsten und für die Abschaffung aller Atomwaffen.
Ich bin politisch aktiv geworden, als Ende der 1950er Jahre die Bewegung Kampf dem Atomtod entstand.
Am 12. April 1957 alarmierten 18 führende Atomwissenschaftler mit ihrem berühmten „Göttinger Manifest“ die Öffentlichkeit über die Gefahren eines Atomkrieges und warnten vor den Plänen der Adenauer-Regierung, die Bundeswehr mit Atomwaffen aufzurüsten.
Bereits 1955 hatten die USA – unter strengster Geheimhaltung – damit begonnen, atomare Kurzstrecken-Raketen in der Bundesrepublik zu stationieren. Adenauer erklärte dazu 1957, diese Atomwaffen seien „nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie“.
1958 stimmte die CDU-CSU Mehrheit des Bundestages für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Darauf hin entstand Proteststurm und die Kampagne „Kampf dem Atomtod“. Zwei Jahre später begannen die „Ostermärsche der Atomwaffengegner“.
1960 forderte der Führungsstab der Bundeswehr die Verfügungsgewalt über die in Deutschland stationierten Atomwaffen und 1962 eigene deutsche Atomwaffen. Und zwei Jahre später forderte der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Trettner die Errichtung eines Atomminengürtels entlang der innerdeutschen Grenze.
Diese abenteuerlichen Pläne zur Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen konnten schließlich verhindert werden.
Die damals in Westdeutschland stationierten rund 6 000 atomaren Kurzstrecken-Raketen
wurden erst nach dem Ende des Kalten Krieges abgezogen.Übrig geblieben sind bis heute die auf dem Bundeswehr-Luftwaffenstützpunkt in Büchel stationierten US-Atombomben.
Es ist ein seit 50 Jahren andauernder Skandal: Obwohl sich alle Kernwaffenmächte im Atomwaffensperrvertrag 1970 feierlich zur nuklearen Abrüstung verpflichtet haben, gibt es seit dieser Zeit keinerlei substanzielle Abrüstungs-Fortschritte. Die USA und Russland verfügen – trotz einiger Reduzierungen – heute immer noch über mehr als 90 Prozent der weltweit vorhandenen rund 14 000 Atomprengköpfe.
Ohne drastische Reduzierung ihrer Atomarsenale werden alle anderen Atomwaffen-Staaten nicht zur Abrüstung ihrer eigenen Atomwaffen bereit sein. Die beiden atomaren Supermächte USA und Russland müssten mindestens auf das Niveau von China abrüsten, das mit 320 Atombomben nur über 5 % der jeweils rund 6.000 Nuklearsprengköpfe der USA oder Russlands verfügt.
Derzeitiges Haupthindernis für weitere Abrüstungsmaßnahmen zwischen den USA und Russland ist die in Polen und Rumänien stationierte US-Raketenabwehr.
Ihr Zweck der ist nicht die Abwehr eines Angriffs, sondern der Versuch, das atomare Gleichgewicht außer Kraft zu setzen und den USA die Möglichkeit zu einem atomaren Erstschlag zu verschaffen.
Alle Atommächte rüsten derzeit ihre Nuklearstreitkräfte auf, aber es ist vor allem der Anspruch der USA auf weltweite militärische Überlegenheit, der das Wettrüsten anheizt, und weitere Abrüstungsmaßnahmen verhindert
Bereits unter Präsident Obama hat die US-Regierung beschlossen, ihr Atomwaffenarsenal innerhalb von 30 Jahren für 3.000 Mrd. Dollar aufzurüsten, das sind 100 Mrd. Dollar im Jahr.
Zu diesem Aufrüstungsprogramm gehört auch die Perfektionierung der in Europa stationierten US-Atombomben. Und: Nach der Kündigung des INF-Vertrags durch US-Präsident Trump im vergangenen Jahr, droht die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa. Aufgrund ihrer kurzen Vorwarnzeit eignen sich diese Waffen vor allem als Erstschlagswaffen.
Doch auch der Widerstand gegen die atomare Hochrüstung wächst.
Im Juli 2017 haben 122 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen einen Vertrag für das Verbot aller Atomwaffen beschlossen. Das Abkommen verbietet neben der Herstellung, dem Besitz und dem Einsatz von Atomwaffen auch die Drohung mit einem Nuklearschlag sowie die Stationierung von Atomwaffen in anderen Staaten.
Dieser Vertrag ist ein historischer Durchbruch und ein Erfolg der weltweiten Friedensbewegung. Der Druck auf die Atommächte, mit der Abrüstung aller Atomwaffen Ernst zu machen könnte sich dadurch massiv erhöhen. Dazu müssen wir mit all unseren Kräften beitragen.
Ein geradezu unglaublicher Skandal war es, dass die Bundesregierung, die mit wohlfeilen Lippenbekenntnissen beteuert, eine Welt ohne Atomwaffen anzustreben, in der UNO – gemeinsam mit den anderen NATO-Staaten – gegen die Aufnahme der Atomwaffenverbots-Verhandlungen gestimmt hat und die Verhandlungen boykottiert hat. Diese Heuchelei der Bundesregierung ist kaum noch zu überbieten. Das dürfen wir uns nicht bieten lassen.
Unser Druck muss noch viel größer werden. Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie sich nicht am weltweiten atomaren Wettrüsten beteiligt. Deutschland muss die nukleare Teilhabe und die Komplizenschaft mit den Atomkriegsstrategen der USA beenden.
Entgegen dem Mehrheitswillen der Bevölkerung – nach einer ganz aktuellen Umfrage
83 Prozent – und trotz eines parteiübergreifenden Beschlusses des Bundestages im Jahr 2010 hält die Bundesregierung weiterhin an der Stationierung der US-Atombomben in Deutschland fest und lässt Piloten der Bundeswehr regelmäßig den Atomwaffeneinsatz für den Ernstfall trainieren. Und – mit ihrer Zustimmung sollen jetzt die in Büchel, in den Niederlanden, in Belgien, Italien und der Türkei stationierten 150 Atombomben durch eine völlig neue Version, die B61-12 ersetzt werden.
Die B61-12 ist eine Allzweckbombe, eine zielgenaue, elektronisch gesteuerte und gelenkte Atomwaffe mit vergrößerter Reichweite und der Fähigkeit, tief verbunkerte Ziele zu zerstören.
Durch die variable Sprengkraft, in der Größenordnung von sog. Mini-Nukes bis zur Sprengkraft der Hiroshimabombe, und die extreme Treffgenauigkeit ergeben sich für die Kriegsplaner neue Einsatzmöglichkeiten für zukünftige Kriege.
Die neuen US-Atomwaffen senken die Hemmschwelle für einen Atomwaffeneinsatz. '
Mit diesen neuen Waffen – darauf spekulieren die Atomkriegsstrategen – ließe sich der Einsatz von Atomwaffen auf Europa begrenzen, ohne dadurch einen globalen Nuklearkrieg mit Russland zu riskieren.
Ausschließlich für den Einsatz der in Büchel stationierten Atombomben will Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer 45 Exemplare des US-Kampfbombers F-18 anschaffen. Die „Nukleare Teilhabe“ soll so für die kommenden Jahrzehnte festgeschrieben werden.
Damit darf die Bundesregierung nicht durchkommen. „Atomwaffen raus aus Deutschland“, das bleibt unsere zentrale Forderung.
Seit einigen Jahren schon erzählt uns die Bundesregierung das Märchen, dass für den Abzug der Atomwaffen die USA und NATO zuständig seien. Eine billige Ausrede ist das, mit der sich die Bundesregierung aus der eigenen Verantwortung stiehlt.
Die Wahrheit ist: Ob Massenvernichtungswaffen in Deutschland stationiert werden, ob sich die Bundeswehr im Ernstfall an Atombombenangriffen beteiligt und dafür Trainingsflüge absolviert, das hat weder die US-Regierung noch die NATO zu entscheiden.
Unsere Forderung heißt deshalb: Die Bundesregierung muss unverzüglich selbst handeln. Sie muss die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands sofort beenden. Dafür braucht sie weder die Genehmigung der USA, noch die Zustimmung der anderen NATO-Verbündeten.
Wir verlangen Taten, statt leerer Worte. Die Bundesregierung muss die Bereitstellung der Tornado-Flugzeuge für den Einsatz der US-Atomwaffen beenden. Sie muss die Ausbildung und die Übungsflüge der Bundeswehr für den Abwurf der Atomwaffen einstellen und sie muss das Stationierungsabkommen für die Lagerung der US- Atomwaffen in Deutschland aufkündigen.
Lasst uns gemeinsam weiterhin aktiv für die Abschaffung aller Atomwaffen eintreten,
für die sofortige Beendigung der nuklearen Teilhabe Deutschlands und für die Forderung: Deutschland muss dem UN-Atomwaffen-Verbots Vertrag unterzeichnen.