Die Türkei steht vor einem Bürgerkrieg - Die Atomwaffen in Incirlik sind nicht sicher
Clemens Ronnefeldt auf dem Marienplatz
Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des internationalen Versöhnungsbundes
Vom 13. bis 23. März 2016 war ich mit einer IPPNW-Delegation unter der Leitung von Dr. Gisela Penteker in der Türkei. Unsere Gesprächspartner in Ankara und Diyarbakir waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Menschenrechtsvereinen, der Anwaltskammer, der Ärztekammer, der deutschen Botschaft, der Gewerkschaft SES, der Fraktionsvorsitzende der Partei HDP, der stellvertretende Fraktionschef der Partei CHP, der Journalist Erdem Gül von der Zeitung Cumhyriet, der inzwischen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde wegen Landesverrats, sowie mehrere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Cizre, Mardin und Viransehir in der mehrheitlich kurdisch bewohnten Osttürkei.
In Incirlik lagern 50 Atomwaffen unter Nato-Kommando, lediglich 110 Kilometer von Syrien entfernt. Am 18. Juni 2016 wurde der Strom abgestellt und der Atomwaffen-Stützpunkt mit einem Notstromgenerator versorgt. Der türkische Kommandeur des Stützpunktes, General Bekir Ercan Van und neun weitere Offiziere, wurden nach dem jüngsten Putschversuch verhaftet, über der Türkei verhängte Präsident Erdogan einen dreimonatigen Ausnahmezustand. Innerhalb der Nato gibt es aktuell Pläne, die in der Türkei lagernden Atomwaffen auf eine oder mehrere andere europäische Lagerstätten zu "evakuieren" - weil sie in der Türkei nicht mehr als sicher gelten.
Wenn die türkische wie die kurdische Seite nicht den Weg zurück zum 2013 so hoffnungsvoll begonnenen Friedensprozess finden, droht der Türkei ein Bürgerkrieg, der das Land in Kürze aussehen lassen könnte wie aktuell das Nachbarland Syrien.
Auslöser der Gewalt: Wahlen, Präsidialsystem und Rojava
Auslöser der jüngsten Gewaltwelle waren die aus Sicht von Präsident Erdogan verloren gegangen Wahlen im Sommer 2015, als die prokurdische Partei HDP 13 Prozent der Stimmen erhielt und so die Einführung eines Präsidialsystems verhinderte, das dem türkischen Präsidenten künftig noch mehr Macht einräumt als bisher.
Um dieses Präsidialsystem mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament durchzusetzen, wurde Mitte Mai 2016 die Immunität von 138 Abgeordneten (von 550 insgesamt), davon wiederum allein 50 der 59 HDP-Abgeordneten aufgehoben, denen nun Strafprozesse und Haft drohen.
Der zweite immer wieder auf unserer Reise genannte Grund für die Verschärfung des kurdisch-türkischen Konflikts ist die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien - direkt an der syrisch-türkischen Grenze - ein Gebiet, das von kurdischer Seite "Rojava" (Westen) genannt wird. Präsident Erdogan fürchtet, dass diese Selbstverwaltungs-Tendenzen übergreifen könnten auch auf die Türkei. Im Norden Iraks hat sich die kurdische Selbstverwaltung inzwischen verfestigt.
Nach der Bombardierung von PKK-Stellungen in den irakischen Kandilbergen im Jahre 2015 errichteten Jugendliche vorwiegend einer PKK-Jugendorganisation Straßensperren in etlichen osttürkischen Kurdenhochburgen, aus Protest und vor Schutz vor Verhaftung und Folter. Die türkischen Streitkräfte nahmen dies zum Anlass, ganze Stadtviertel dem Erdboden gleich zu machen und hunderte von Zivilisten zusammen mit wenigen Militanten zu töten.
Präsident Erdogans persönliche Hafterfahrung
Im Jahre 2016 veröffentlichte die Journalistin Cigdem Akyol ihr sehr aufschlussreiches und lesenswertes Buch "Erdogan. Die Biographie". Herderverlag, Freiburg 2016, 383 Seiten.
Auf Seite 106ff geht die Biographin ausführlich auf die Verurteilung Erdogans ein, nachdem dieser am 12. Dezember 1997 aus einem - in der Türkei weit verbreiteten - Gedicht den Satz zitiert hatte:
"Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Soldaten".
Am 21. April 1998 verurteilte ihn das Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir wegen "Aufstachelung zur Feindschaft" zu zehn Monaten Gefängnis und einem lebenslangen Politikverbot. Die Haftstrafe, die er am 26. März 1999 antrat, wurde später auf vier Monate reduziert, das Politikverbot wieder aufgehoben.
Die Biographin bezeichnet das Jahr 1999 als "Achsenjahr in seiner Biographie" und schreibt:
"Rückblickend wirken alle Worte und Erklärungen rund um seine Haftzeit wie ein einziger Hohn. Denn je mehr Macht Erdogan später innehat, desto mehr wird er darüber wachen, welche Meinungen in der Türkei öffentlich geäußert werden" (S. 108).
Die Verhaftungen von kritischen Journalistinnen und Journalisten, das Abschalten des TV-Senders IMC mitten während eines Interviews mit Can Dündar, der zusammen mit Erdem Gül zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt wurde, weil beide darüber berichtet hatten, wie der türkische Geheimdienst Waffenlieferungen an islamische Kämpfer in Syrien organisierte, die Exzesse gegen die Pressefreiheit in der Türkei und auch in Deutschland, erscheinen vor diesem Hintergrund der persönlichen Hafterfahrung von Präsident Erdogan noch einmal in einem anderen Licht.
Das Ziel der Gewalt und Vertreibung: Arabisierung und Islamisierung der Kurdengebiete
In vielen unserer Gespräche bezeichneten unsere Dialogpartner es als Skandal, dass die EU-Politik wegen der besonderen Rolle der türkischen Regierung in der Flüchtlingsfrage bisher zum Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung weitgehend schweigt. Speziell die deutsche Bundesregierung wurde wegen massiver Rüstungsexporte in die Türkei als Unterstützung dieser Gewaltpolitik wahrgenommen. Seit Sommer 2015 wurden rund 400 000 Menschen in den kurdischen Gebieten aufgrund des Krieges aus ihren Heimatstädten und Dörfern vertrieben.
Hinter den massiven Zerstörungen von Stadtvierteln in der Altstadt von Diyarbakir, in Cizre und anderen Städten steckt offenbar eine gezielte Strategie der Regierung Erdogan: Durch die Vertreibung mehrerer tausend prokurdischer Wählerinnen und Wähler aus den HDP-Hochburgen sowie der geplanten Ansiedlung von vielen Tausend sunnitischer syrischer Flüchtlinge möchte die Regierung Erdogan die Demographie in den kurdischen Gebieten der Türkei massiv verändern.
Die Kurdengebiete erleben derzeit eine Arabisierung sowie eine Islamisierung durch den Bau neuer Moscheen. Diese Politik, die einhergeht mit schwersten Menschenrechtsverletzungen und der Einschränkung der Pressefreiheit wird durch die Milliarden-Euro-Überweisungen der EU an die Türkei auch noch unterstützt.
Die Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei sei wichtig und richtig, allerdings dürfe diese nicht dazu führen, dass dadurch die kurdische Bevölkerung getötet oder vertrieben wird. Alle Gesprächspartner betonten übereinstimmend, dass die Rückkehr zum 2013 begonnenen türkisch-kurdischen Friedensprozess das Gebot der Stunde sei, andernfalls drohe die Türkei in Krieg und Chaos zu versinken.
Um den abgebrochenen Friedensprozess wiederzubeleben, bräuchte es eine Vermittlung von außen, unterstützt insbesondere von der EU und den USA, die erheblichen Einfluss auf das NATO-Land Türkei haben, so Ahmet Türk, landesweit bekannter Oberbürgermeister der Großstadt Mardin.
Auswirkungen des EU-Flüchtlingsdeals mit der Türkei
Amnesty International kritisiert, die Türkei sei "kein sicherer Drittstaat", in den die EU "bedenkenlos Schutzbedürftige zurückschicken" dürfe. Das Abkommen mit der EU sieht vor, dass die Türkei alle auf griechischen Inseln gestrandeten Migranten und Flüchtlinge zurücknimmt.
Dafür hat sich die Europäische Union verpflichtet, für jeden Zurückgebrachten einen syrischen Bürgerkriegsflüchtling aufzunehmen.
Die Registrierzentren auf Lesbos haben sich inzwischen in Abschiebegefängnisse verwandelt. Flüchtlinge werden mit dem falschen Versprechen in die mit Stacheldraht umzäunten Lager gelockt, dass ihnen dort in wenige Tagen Papiere für die Weiterreise ausgestellt würden. Tatsächlich werden sie dort festgehalten, bis ihre Abschiebung in die Türkei geregelt ist. Die griechischen Behörden sind völlig überfordert, die Versorgung der Flüchtlinge ist katastrophal. Sämtliche Hilfsorganisationen haben sich zurückgezogen, weil sie sich nicht als kostenlose Helfer für Gefängnisse missbrauchen lassen wollen.
Laut Amnesty International hat die Türkei seit Mitte Januar 2016 mehrere Hundert syrische Flüchtlinge in ihre Heimat Syrien abgeschoben. Diese Praxis lege "fatale Mängel" im Pakt zwischen Ankara und der Europäischen Union zur Eindämmung der Flüchtlingswanderungen in die EU offen, teilte Amnesty International im April 2016 mit. Niemand könne derzeit garantieren, dass die aus Griechenland abgeschobenen Flüchtlinge nicht einfach zurück ins Kriegsgebiet Syrien geschickt werden.
Petition von Friedensorganisationen
Zusammen mit acht weiteren Friedensorganisationen hat der Versöhnungsbund eine Petition an Außenminister Frank-Walter Steinmeier initiiert, in der gefordert wird:
Angesichts der Gewalt und der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, vor allem den vom Krieg zwischen türkischer Regierung und PKK betroffenen Regionen in der Osttürkei, darf die deutsche und europäische Politik nicht länger wegsehen. Wir fordern Sie auf:
- Die Parteien des Konfliktes, insbesondere die türkische Regierung und die PKK, zu einem sofortigen Waffenstillstand und zur Wiederaufnahme der Friedensgespräche aufzurufen;
- Die türkische Regierung aufzufordern, allen internationalen Menschenrechtsabkommen nachzukommen, denen die Türkei beigetreten ist, und alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Zivilbevölkerung zum Teil des Konflikts macht;
- Alle Waffenlieferungen in die Region zu stoppen;
- Alle Möglichkeiten in der Europäischen Union, der OSZE und dem Europarat zu nutzen, um den Menschenrechten für alle Bürgerinnen und Bürger in der Türkei sowie allen sich dort aufhaltenden Flüchtlingen Geltung zu verschaffen;
- Die OSZE einzuschalten und eine Beobachtungsmission zu entsenden.