Rede von Ernst Grube, zur Kundgebung
Überlebender der Judenverfolgung, Mitglied der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten
am Antikriegstag, 1. September 2021 in München

Liebe Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner,
liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter

Am 8. Mai 1945, als die Niederlage des deutschen Faschismus in Berlin-Karlshorst nach der beispiellosen Barbarei besiegelt wurde, erlebten meine Mutter, meine beiden Geschwister und ich unsere Befreiung durch Soldaten der Roten Armee im Ghetto Theresienstadt.
Damals wusste ich noch nichts von den beispiellosen Dimensionen der beiden von Deutschland verübten Menschheitsverbrechen: der Shoah und dem rassistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.

Wir jüdische Gefangene in Theresienstadt hofften, dass die Armeen der Antihitlerkoalition bald siegreich sein würden über die Wehrmacht und ihre Verbündeten.
Unser eigenes Überleben hing davon ab.

 

Heute am Antikriegstag 2021, 80 Jahre nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, ist dieser Rückblick besonders wichtig:

Denn heute stehen wieder deutsche Truppen im Rahmen der Nato an Russlands Grenzen.
 

Mit dem Krieg im Osten, dem Überfall auf Polen, auf südosteuropäische Staaten und dann auf die Sowjetunion, begannen die größten Menschheitsverbrechen.

Allein bis zur Kriegswende im Frühjahr 1943 in Stalingrad gerieten
5,7 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Gefangenschaft. Bis zum Kriegsende im Mai 1945 kamen 3,35 Millionen gefangene Sowjetsoldaten um. Sie wurden als »bolschewistische Untermenschen« erschossen, vergast. Die Wehrmacht ließ sie gezielt verhungern und erfrieren.

 

Diese Vernichtung von Menschen war von der NS Führung, der Wehrmacht, den Wirtschafts- und Wissenschaftseliten im Generalplan Ost voraus geplant. Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Osten wurde vorausgesetzt und die Vertreibung der in ihren Augen minderwertigen Slawen, die brutale „Germanisierung“ der geraubten Gebiete und die Ausplünderung waren Ziele der deutschen Lebensraumpolitik.

Über 2 Millionen Juden wurden durch die SS und ihre einheimischen Helfer erschossen in Minsk, in Babij Yar, in Kaunas, um nur wenige Orte zu nennen. 40% der Opfer der Shoah waren Bürger*innen der Sowjetunion.
 

Dieser Massenmord hinter der Ostfront beschleunigte die Planungen für die Judenvernichtung im deutsch besetzten Europa. Ab Mitte Oktober 1941 begannen die ersten systematischen Deportationen in die eroberten Ostgebiete.

Drei Millionen Juden aus ganz Europa wurden in deutschen Vernichtungslagern im besetzten Polen ermordet. Darunter sind alle meine engsten Verwandten: alle Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen aus der Familie meiner Mutter.

Der rassistische Eroberungs- und Vernichtungskrieg und die Shoah, diese beiden Menschheitsverbrechen, sind untrennbar miteinander verbunden.

Die Rote Armee hat die Hauptlast des Krieges getragen: eine welthistorische Leistung zu einem entsetzlichen Preis.

Diese Verbrechen gegen die Menschheit wurden und werden in weiten Kreisen der Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik bis heute nicht als solche anerkannt und entschädigt, von einigen ganz wenigen symbolischen Beträgen ausgenommen.
 

Bald nach 1945 bestimmte das Feindbild „Bolschewismus“, der Antikommunismus, wieder die offizielle Politik in der Bundesrepublik.

Der Aufbau der Bundeswehr, die Integration in die Nato wurden mit den alten faschistischen Militärs betrieben und mit dem alten Feindbild, der Gefahr aus dem Osten begründet.
Ranghöchste für die o.g. Verbrechen verantwortliche Nazi Militärs, wie z.B. Heusinger und Speidel, verlangten für ihr Mitwirken beim Aufbau der Bundeswehr eine Ehrenerklärung, die sie auch von Bundeskanzler Adenauer bekamen. „Osterfahrung“ war gefragt in bundesdeutschen Institutionen.

 

Das alte Feindbild nach außen und innen ist in Kernbestandteilen geblieben.

An der Seite der Weltmacht USA für „Freiheit und Democracy“ gegen den Kommunismus, unter diesem Motto organisierte sich die bundesdeutsche Politik und verdeckte damit die eigene Verbrechensgeschichte. Wenn es wieder gegen den Kommunismus, die Gefahr aus dem Osten geht, sei es die Sowjetunion, China, oder Vietnam, dann erfuhr der barbarische NS-Vernichtungsfeldzug nachträglich Legitimation.
 

Eine bundesdeutsche Gesellschaft deren ehemalige Wehrmachtssoldaten, Polizisten und anderes Behördenpersonal, Besatzungsterror und Vernichtung ausgeführt haben, konnte diese Verbrechen weitgehend verschweigen oder bagatellisieren.

Können Sie sich vorstellen,

  • dass die Menschen in Ländern der ehemaligen Sowjetunion heute noch an diese Verbrechen denken, weil es leidvoll bis heute ihr Leben prägt?
  • dass sie eine Wiederholung der in ihrer Geschichte mehrmals stattgefundenen Kriege bis vor die Tore Moskaus befürchten?
  • dass sie sich wieder bedroht sehen, nachdem sich die NATO sich bis an die Grenzen ihres Landes ausgedehnt hat.
     

Im Bundestag fand ein Antrag der Linken, eine Gedenkstunde anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion abzuhalten, keine Mehrheit.
 

Immerhin, Bundespräsident Steinmeier nahm im deutsch-russischen Museum Berlin Karlshorst am 18. Juni dieses Jahres anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung zum Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion so deutlich Stellung wie es noch nie ein bundesdeutscher Repräsentant getan hat.
Er sagte:
„27 Millionen Menschen hat das nationalsozialistische Deutschland getötet, ermordet, erschlagen, verhungern lassen, durch Zwangsarbeit zu Tode gebracht ... Vom ersten Tage an war der deutsche Feldzug getrieben von Hass: von Antisemitismus und Antibolschewismus, von Rassenwahn gegen die slawischen und asiatischen Völker der Sowjetunion ( …) mit einer nie dagewesenen Brutalität und Grausamkeit. Die ihn zu verantworten hatten, die sich in ihrem nationalistischen Wahn gar noch auf deutsche Kultur und Zivilisation beriefen, (...) sie schändeten alle Zivilisation, alle Grundsätze der Humanität und des Rechts. Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei.“

Liebe Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter
 

Die Verantwortlichen der NATO haben ihr in den Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990 gegebenes Versprechen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, gebrochen.

 

Inzwischen wurde der INF Rüstungskontroll-Vertrag für atomare landgestützte Raketen vom Hauptland der NATO, den USA, aufgekündigt. Damit wird ein neues Wettrüsten provoziert.
 

Sie und Ihr wisst, dass allen die befreit wurden und allen die kriegsmüde geworden waren, klar war:
Nie wieder sollte von Deutschland Krieg ausgehen!

Was folgt daraus für die aktuelle bundesdeutsche Politik?

Was können und müssen wir tun?
 

Das Schaffen von Voraussetzungen für eine friedlichere, gerechtere Welt ist die nächstliegende und allerhöchste weltpolitische Verantwortung, der sich Deutschland aufgrund seiner Geschichte stellen muss.

Der Abzug der NATO-Truppen von den Grenzen Russlands ist ein notwendiger Schritt, um die aktuelle Eskalation in Richtung Krieg zu stoppen.