Jürgen Jung hat das Gedicht von Günter Grass "Was gesagt werden muss" als Abschluss der Münchner Ostermarschkundgebung 2012 vorgetragen - eine wichtige Botschaft dieser Kundgebung!
Zusätzlich zum Vortrag auf dem Platz hat Jürgen Jung eigene Erläuterungen zu diesem Gedicht aufgeschrieben. Das Gedicht selbst ist z.B. dort bei der Süddeutschen zu lesen.
Überlegungen zum Gedicht von Grass
von Jürgen Jung
Grass selbst stellt "Was gesagt werden muß" in die Tradition des politischen Prosagedichts ("von Goethe über Brecht bis hin zu Erich Fried"). Und genau wie Erich Fried damals in den 60er Jahren schlägt Grass eine Woge aggressiver, zum Teil haßerfüllter Ablehnung entgegen, mit der Absicht, die Wirkung seines beispielhaft-mutigen Schritts zu entschärfen. Die von Grass zu Recht beklagte Gleichschaltung der veröffentlichten Meinung - ich würde ergänzen: tendenziell in der gesamten westlichen Welt – ist Ausdruck genau der „Heuchelei des Westens“, der nicht nur er „überdrüssig“ ist.
Der schlichte Hinweis auf die Tatsache, dass Israel die einzige Atommacht im Nahen Osten ist - und insofern die ganze verhängnisvolle Spirale überhaupt erst in Gang gesetzt hat -, während die „iranische Atombombe“ - selbst nach Ansicht der amerikanischen Geheimdienste – bisher nichts als eine Vermutung ist, wird allgemein als unzulässige Verharmlosung eines „Schurkenstaates“ bemüht, wobei stets unterschlagen wird, dass Grass klipp und klar vom „unterjochten iranischen Volk“ spricht.
Ein weiteres Beispiel für die ideologisch-verzerrte Wahrnehmung des Gedichts ist die immer wiederkehrende Behauptung, Grass unterstelle Israel die Absicht, durch einen "atomaren Erstschlag" das iranische Volk auslöschen zu wollen, und das sei Ausweis von Antisemitismus. Und was sagt Grass tatsächlich?
„Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das .... iranische Volk auslöschen könnte...“
Grass nimmt hier Bezug auf das von Israel immer wieder in Anspruch genommene und praktizierte "Recht" auf den Präventivschlag, der in Israel offen propagiert, ja sogar schon angekündigt wird, was für sich genommen schon ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht ist. Bei einem zu befürchtenden Gegenschlag Irans „könnte“ ein „Erstschlag“ in der Folge dann – angesichts der erdrückenden Überlegenheit der israelischen Militär- bzw. Atommacht, ganz zu schweigen von den vielen atomar-bestückten amerikanischen Stützpunkten und Flugzeugträgern um Iran herum - in der Tat den Untergang des Landes (und insofern auch des Volkes) mit sich bringen. Ein plausibles Szenario, das mögliche Folgen eines Angriffs von Seiten Israels thematisiert. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Wort findet sich da von einer Absicht oder einem Plan Israels, Iran auszulöschen. Grass des Antisemitismus zu bezichtigen, ist schlicht abwegig, wirft allerdings ein bezeichnendes Licht auf diejenigen, die dies tun.
Was Grass hier sagt fügt sich nahtlos ein in die für jede Kriegsvorberei-tung notwendige manipulative Dämonisierung des Gegners, der – unzweifelhaft diktatorischen - iranischen Führung, die angeblich „die Auslöschung“ Israels propagiere. Dabei wird abgesehen davon, dass vor Jahren schon die New York Times, der britische Guardian und dann die SZ detailliert nachgewiesen haben, dass Ahmadinedschads immer wieder kolportierter Satz falsch übersetzt wurde – warum wohl? Geflissentlich wird dabei auch von den blinden Israelfreunden übersehen, dass die Forderung, „das Besatzungsregime in Jerusalem müsse verschwinden“ – nichts anderes nämlich hat Ahmadinedschad im Kern gesagt -, im Einklang mit dem Völkerrecht steht, das den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten fordert.
Aber die Erwartung, Völkerrecht oder Menschenrechte zu beachten, ist ja Israel gegenüber nur eine blauäugige Zumutung von „linken Gutmenschen“ oder Pazifisten, die gegenüber „Gangstern“ (so etwa Henryk M. Broder über den Iran) natürlich weltfremd und in letzter Konsequenz auch wieder – wer hätte das gedacht – antisemitisch ist. Das Völkerrecht gilt natürlich für Israel nicht.
Der Anlaß für das Gedicht war für Grass offensichtlich, dass wir Deutschen mitschuldig werden könnten an einem „voraussehbaren Verbrechen“ durch die „Zulieferung“ des mittlerweile 6., mit atomaren Sprengköpfen ausrüstbaren U-Bootes an Israel, obwohl es gegen geltendes Recht verstößt, Waffen in Spannungsgebiete zu liefern. Aber Israels „Sicherheit“ steht augenscheinlich über Recht und Gesetz, ja, ist - wie wir von Kanzlerin Merkel zu hören bekamen – deutsche „Staats-raison“. Diese Ansicht wurde von Altkanzler Helmut Schmid mit Recht als „töricht“ bezeichnet.
Die „eingreifende“ Lyrik von „Was gesagt werden muss“ scheint vielen unserer verblendeten Zeitgenossen ganz offensichtlich schwer erträglich. Anstatt auf die wahrlich diskussionswürdigen Inhalte seines Prosa-Gedichts einzugehen, wird Grass jede Sachkompetenz abgesprochen, Geltungssucht bescheinigt oder gar seine jugendliche Mitgliedschaft in der SS (ganze 17 war er da) vorgeworfen.
Dieser respekt- und würdelose Umgang mit dem Nobelpreisträger ist Ausdruck einer erschreckend einfältigen und unehrlichen Debattenkultur hierzulande, die die Berechtigung, ja die Notwendigkeit seiner Kritik im Nachhinein vollauf bestätigt.
Jürgen Jung, am 6. 4. 2012